Written by
Friedrich Lips Translation by Dr Herbert Scheibenreif
Publication
Accordions Worldwide
Date Written
September 2003
Meinem lieben Freund Wladislaw Solotarjow zum 60. Geburtstag.
 
ZWEI PLAKATE FÜR EIN KONZERT (Es scheint, als wäre es gestern gewesen... - 2)
 
Ab dem 4. Studienjahr (1970) spielte ich fast jedes Jahr ein neues Programm in Moskau, anfangs hauptsächlich Transkriptionen, bald hielten sich aber, nicht ohne den Einfluss von Solotarjow, Originalmusik und Transkriptionen die Waage. In der Regel bauten die Bajanisten ihre Programme eher schablonenhaft auf: sie begannen mit der Klassik (meist mit einem polyphonen Werk von Bach) und den Abschluss bildete eine Bearbeitung von Volksliedern. 1973 brach ich ein für allemal mit diesem Stereotyp.

Das Programm des Konzerts bestand aus französischer Musik (Franck, Couperin, Rameau, Daquin, Messiaen) und neuer Originalmusik (Schurbin, Fantasie und Fuga sowie Toccata und Solotarjows Sonate Nr. 3). Natürlich sollte ich das Konzert, wie geplant, mit der Choralfantasie Nr. 3 von C. Franck beginnen. Aber mit der Sonate gab es ein Problem. Ich wollte das Konzert nicht damit beschließen, weil danach Stille herrschen soll, die durch "Zugaben" gestört würde; das Publikum und der Interpret müssen innehalten und sich besinnen. Kurzum, Zugaben sind hier nicht am Platz.

Da hatte Polina Waidman (aus meinem Freundeskreis - ein kluger Kopf, Musikwissenschafter, nach Beendigung seines Studiums ließ er sich in der Stadt Klein nieder, wo er bis jetzt wissenschaftlicher Leiter des Tschaikowskij - Museums ist) einen Einfall: "Und wenn die beiden Teile vertauscht werden?!" Aber natürlich! Warum bin ich nicht selbst darauf gekommen?

Manche sagen wahrscheinlich: "Eine Bagatelle! Na was ist da Besonderes?" Heutzutage scheint so eine Entscheidung banal. Aber damals war es die Umkehrung aller Werte. An die Adresse junger Musiker: am schwierigsten ist es, mit Stereotypen aufzuräumen. Die Jugend ist die Zeit der Kühnheit, um mit altgewohnten Prinzipien zu brechen. Erinnern wir uns daran, welche Revolution im Denken der Bajanisten Ende der 60er Jahre die Arbeit von A. Poletajew über die "Prinzipien des fünffingrigen Fingersatzes auf dem Bajan" dargestellt hat. Es handelte sich dabei um ein Referat des jungen

Aspiranten des Konservatoriums von Gorki.

Für das Frühjahr 1976 plante ich ein Konzert mit einem Teil spanischer Musik. Speziell für dieses Programm bat ich Solotarjow, irgendein Stück mit spanischem Kolorit zu schreiben. Er griff diese Idee mit Interesse auf und legte bald seine Gedanken dar:

Ich mache eine Transkription bekannter Stücke wie Cordoba und Asturias von I.Albeniz, und auf dieser Grundlage komponiere ich eine Fantasie.

Bitte, das brauchst Du nicht zu machen, erwiderte ich ihm. Ich habe diese Stücke schon transkribiert und ins Programm aufgenommen. Schreib bitte ein Originalwerk in der Art der "Spanischen Rhapsodie" von F. Liszt.

Die Zeit verging, aber die Arbeit von Wladik ging nicht voran. Auf meine Bitte und Erinnerung bekam ich die Antwort: "Die Idee entwickelt sich nicht. Gedulde dich noch." Bald darauf erhalte ich von ihm einen Brief aus der Stadt Smela (Region Tscherkassk), wo er sich in den folgenden Jahren ziemlich oft bei seinen Eltern aufhalten sollte. Keine einzige Bemerkung über das spanische Stück. Er schreibt, dass er keine Eingebung hat, dass er nichts schreiben kann. Ich hielt das nicht mehr aus und versuchte, in einem Brief Druck auf ihn auszuüben: "Man muss sich selbst zwingen sich auf einen Sessel setzen, und die Inspiration wird kommen.

Man muss sich nur hinsetzen." Aber mein Freund reagierte keinesfalls auf Druck. Als Antwort kam ein Brief, wo nicht ohne Humor geschrieben stand: "Eine Inspiration ist wunderbar. Aber ohne Ziel auf Eiern zu sitzen - das ist nicht der beste Lotse für die Inspiration. Ohne Ziel kann ich nicht arbeiten. Aber das Ziel stand einstweilen noch in einiger Entfernung... Weil sich sein wirklicher Herr und Diener nach so vielen Jahren der Arbeit ausruht."

Nach der Ankunft in Moskau teilte er mir mit, dass die Kindersuite Nr. 4 in zehn Sätzen fertig war: "Nimm, spiel, inzwischen arbeite ich an der "Ispaniada".

NatürIich stürzte ich mich mit großem Eifer auf die Suite. Von der ersten Bekanntschaft mit seiner Musik wartete ich immer gierig auf alles, was aus seiner Feder kam - so nahe waren mir all seine Bilder, Intonationen, der ganze geistig-emotionale Aufbau, ja sogar seine handschriftlichen Aufzeichnungen mit großer, schöner und klarer Schrift.

Übrigens war ich in dieser Hinsicht bei weitem nicht der einzige. Viele Bajanisten aus verschiedenen Städten des Landes, die über unsere freundschaftlich nahe Beziehung Bescheid wussten, fragten mich oft als erstes: "Was schrieb Solotarjow?" Nach der ersten Bekanntschaft mit der Suite Nr. 4 fragte ich ihn erstaunt:

Wladik, die Suite hat zehn Sätze. Jeder Satz wird durchschnittlich zwei bis drei Minuten dauern. Erscheint es Dir nicht eigenartig, dass eine Kindersuite für Bajan ungefähr eine halbe Stunde dauert? Kann man sie auf zwei Suiten zu fünf Sätzen aufteilen?

Du hast wahrscheinlich Recht. Tu, was Du für richtig hältst.
Nach einiger Zeit brachte mir Wladik endlich das langerwartete Geschenk: Ispaniada (Spanische Rhapsodie).

- Das ist nicht spanische Musik, begann er sein Werk zu erklären, das ist Spanien mit den Augen eines Russen. Das Geräusch der Meeresbrandung, Gitarrenkadenzen, hier Fanfaren, die zu einer langen Schiffsreise rufen ("Vasco da Gama! Oder Kolumbus!", sagte er), dort feurige spanische Tänze

Das Programm mit spanischer Musik wurde nicht 1976, sondern erst im Jahre 1977 aufgeführt. Aber im Frühling 1976 bereitete ich wegen tragischer Vorfälle (Ableben Solotarjows am 13. Mai 1975) ein Komponistenkonzert zur Erinnerung an meinen Freund vor. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass irgendein anderer Bajanist ein derartiges Konzert gespielt hätte. Natürlich war das bei den Pianisten bedeutend einfacher: einen Klavierabend mit Werken von Chopin, Liszt oder

Beethoven kann man ziemlich oft hören.

Das Programm des ersten Teils bestand aus "Fünf Kompositionen" (Urauf-führung) und der "Sonate Nr. 3". Für den zweiten Teil plante ich die "Kammersuite" in sechs Sätzen, die "Kindersuite Nr. 4" (Uraufführung) und die "Ispaniada" (Urauf-führung). Als Zugabe wollte ich das Stück "Kloster von Ferapont. Medidation über die Fresken von Dionisij" spielen. Das Schicksal dieses Stücks ist sehr interessant. Nach dem Tod Solotarjows übergab mir seine Witwe Irina liebenswürdigerweise fast alle seine Handschriften, Entwürfe, Skizzen für zukünftige Werke, literarische Arbeiten.

lm Laufe einiger Tage studierte ich, was auf den Bögen geschrieben war. Unsägliche Wehmut, Melancholie, ja sogar Verzweiflung ergriff mich: mein Gott, wen haben wir da verloren! Das war ein Mann von einem anderen Stern, ein Neuankömmling aus einer anderen Welt; er war nicht nur talentiert, sondern schlicht genial, konnte sich aber als Genie einfach nicht voll und ganz verwirklichen.

Ich las auf den Bögen Miniaturen für Bajan und Klavier. Später nahm ich ein "Choralpräludium", einen "Volkstanz" und "A la Mussorgskij" in einen der Sammelbände* auf.

Eine Reihe von Miniaturen, die bedauerlicherweise nur in handschriftlicher Form erhalten waren, zog meine Aufmerksamkeit auf sich. In mir reifte der Entschluss, die Kindersuite Nr. 4 neu zusammenzustellen, neue Stücke hinzuzu-fügen und aus den gewonnenen fünfzehn Stücken drei neue Suiten zu machen.

Damit sie ais Einheit und mehr oder weniger abgeschlossen wirkten, stellte ich sie - das ist natürlich relativ - thematisch zusammen: Nr. 4 - die zauberhafte, Nr. 5 - die märchenhafte, Nr. 6 - die ländliche. Jetzt haben wir sechs Kindersuiten Solotarjows. Ich denke, dass mir das Wladik selbst gestattet hätte, umso mehr, ais er mir auf die Neuzusammenstellung der riesigen vierten Suite seine Zustimmung gegeben hatte.

Ich las weiter seine handschriftlichen Bögen. Nun lag das Klavierstück ",Kloster von Ferapont. Meditation über die Fresken von Dionisij" vor mir. Ich began zu lesen, und ... Tränen kullerten über meine Wangen: es war ein unglaublich schönes Stück! Welche Kraft, welche Macht, welch gewaltiger russischer Geist strömt aus dieser wunderbaren Melodie! Das Werk ist nicht groß, aber sehr gut aufgebaut.

Die Aufwärtsbewegung in der ersten Hälfte des Stücks ist kraftvoll, stetig und langsam, die Abwärtsbewegung in der zweiten (es entstehen Assoziationen zu den Melodismen der Dritten Sonate) ebenfalls langsam jedoch traurig. Das Werk ist umrahmt von großen Septimenakkorden, seinem Lieblingsakkord, die wie Glocken klingen. Das Stück ist verklungen ... die Augen voller Tränen... Der Entschluss kam schon während des Spiels: die Pianisten haben eine umfangreiche Literatur, sie werden sich kaum auf dieses Stück stürzen, aber als ich die endgültige Redaktion machte, reklamierte ich es für den Bajan und gab es im Sammelband als Originalwerk für Bajan heraus.

Solotarjow erzählte mir einmal, dass er von den Fresken des altrussischen lkonenmalers; Dionisij so begeistert war, dass er deshalb in die Stadt Kirillow (Region Wologda) reiste, um die bekannten Fresken im Kloster von Ferapont zu besichtigen. Aber das vorliegende Werk hat er kein einziges

Mal mit einer Silbe erwähnt.

Ich sah weiter die Handschriften durch. Hier war der erste Teil der Partita Nr. 2, die Exposition der vierten Sonate, der Beginn der dritten und vierten Konzertsymphonie für Bajan und Symphonieorchester. Und da gibt es einige Notenhefte mit Skizzen für den seit langem geplanten Zyklus mit sechs lyrischen russischen Opern: Andrej Rubljow, Sergej Radoneschskij, Feofan Greck, Nil Sorskij, Awwakum. Wäre dieses Vorhaben gelungen und das vom Kulturministerium in Auftrag gegebene Oratorium "Denkmal für die Revolution" aufgeführt worden - ich bin überzeugt, wir wären Zeuge der völligen Anerkennung des Komponisten Solotarjow geworden.

Unter den Manuskripten befand sich auch das Poem "Martin Iden" für Alt
und Kammerorchester. Der Held Jack Londons war auch eine der Lieblingsfiguren
Solotarjows. Erwies sich der gewaltsame Tod des Helden nicht als fatales Ereignis für Wladislaw, auf das er nach nicht einmal 33 Jahren seinen Lebensweg baute?

Gotowo-wybornij bajan w muzykal'nom ucilišce (Der Konverter-Bajan in der Musikmittelschule), Band 10, Herausgeber F. Lips - Moskau, 1982

Das Konzert war für März im Konzertsaal des Gnessin-Instituts geplant. Einige Tage davor erschien das Plakat. Auf meine Bitte gestaltete Moskonzert das Plakat nicht als Solokonzert des Interpreten (zuerst mit großer Schrift den Namen des Künstlers und danach das Programm), sondern als Komponistenportrait: groß den Namen des Komponisten, dann das Programm und erst unten den Namen des Interpreten.

Und plötzlich ... buchstäblich am Tag vor dem Konzert teilte mir J. Akimow, der damalige Leiter der Lehrkanzel für Volksinstrumente, gleichzeitig der höchste Sekretär der Parteiorganisation des Instituts mit besonders feierlicher Stimme und gehobenem Ton mit, dass er als Sekretär aus dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei angerufen worden war: was für ein Unfug geht bei Euch im Konzertsaal vor? Der historische26. Kongress der KPdSU beendet seine Arbeit, das ganze Land wird von einem nie da gewesenen Aufschwung erfasst und bereitet sich auf die Ausführung historischer Entscheidungen vor, und bei Euch wird ausgerechnet am Schlusstag den ganzen Abend die Musik eines Komponisten gespielt, der seinem Leben selbst ein Ende setzte! Der Teufel weiß, was das soll!

Ich hörte meinem Vorgesetzten stillschweigend zu. Seit dem ersten Tag meiner Arbeit auf der Kathedra hatte ich keine besondere Beziehung zu ihm, weil ich als Pädagoge schnell als Autorität anerkannt war und in der Klasse viele junge Leute, darunter seine Schüler, zu mir drängten.

Er war ein eher durchschnittlicher Musiker, Karriere machte er durch seine Parteiarbeit. Hier fühlte er sich wie ein Fisch im Wasser. Sicherlich war der Anruf aus dem ZK der KPdSU für ihn so wie für einen echten Gläubigen der Anruf aus der Himmelskanzlei von Gott Vater selbst.

lm Gang des Instituts begegnete ich S. M. Kolobkow, der damals Prorektor war (er war schon über das Geschehen informiert):

Ergänze das Programm mit anderen Autoren!
Aber es ist doch die Idee des Konzerts, einen Abend zum Gedenken an Solotarjow nur mit seinen Werken zu spielen.

Nun, spiel im ersten Teil Solotarjow und im zweiten Teil andere Komponisten.

Gut, dann erklingt im ersten Teil andere Musik und im zweiten Teil spiele ich beide Teile Solotarjow ohne Pause.

Sergej Michailowitsch zeichnete sich schon immer durch Behutsamkeit und Ausgewogenheit aus. Auch diese Entscheidung war von seiner Grundhaltung bestimmt, wie von seinem Spürsinn eingegeben:

Weißt Du was, wir werden die Gans nicht reizen. Wenn Du auch nur ein Stück Solotarjows spielst, sind die Konsequenzen unabsehbar. Besser wäre es, das Konzert "wegen Krankheit des Künstlers" überhaupt abzusagen.

Wer sich an diese Zeit erinnert, wird dies bestätigen. Aber ich war von Natur her ein Kämpfer. Seit meinem Auszug aus dem elterlichen Haus zur Ausbildung in Magnitogorsk im Alter von 15 Jahren stellte mir das Leben stets bestimmte Aufgaben, die ich in den meisten Fällen selbständig Iösen musste. Und der Wind, bildlich gesprochen, blies mir selten in den Rücken, sondern öfters ins Gesicht. Deshalb entschied ich, nach der Absage des Konzerts die Situation so nicht stehen zu lassen.

Erinnern wir uns an die distanzierte Haltung unserer anerkannten Komponisten zu Solotarjow, an ihre Äußerungen über die Musik des jungen Komponisten bei den Allrussischen Kompositionswettbewerben, die besondere "Erwiderung" Tschaikins in der Einleitung zur ersten Ausgabe des Handbuchs von

A. Basurmanow, die in der zweiten Ausgabe dank zahlreicher Bittbriefe und Aktivitäten A. Nagajews weggelassen wurde. Erinnert sei weiters an das Urteil Tschaikins beim Allrussischen Wettbewerb in Nowosibirsk im Jahre 1979: "Solotarjow ist weder ein russischer Komponist noch ein sowjetischer." "Und wie hat er dann so hervorragende Werke", hielt ich ihm entgegen, "die in der ganzen Welt gespielt werden?" "Nun, er wird im Ausland gespielt, weil man dort grundsätzlich den Tod als Thema hat. Jenen, die im kapitalistischen System leben, ist er nahe." Es ist schwierig, mit einem Menschen zu streiten, der so engstirnig denkt.

Außerdem fühlte ich irgendwo in der Tiefe meiner Seele, dass sich Nikolai Jakowlewitsch verstellte: als Musiker wusste er über das Talent Solotarjows genau Bescheid, aber er war ein Konkurrent, und was für einer! Kurz gesagt, die Nachricht über das Verbot des Konzerts zum Gedenken an Solotarjow verbreitete sich sehr schnell und verwandelte sich in eine Nachricht, dass Solotarjow ein "verbotener" Komponist ist, umso mehr, als das vielen sehr angenehm war.

Ich beschloss zu handeln. Aber wie? Zu wem sollte ich gehen? Ich überlegte alle Möglichkeiten und kam, wie sich später herausstellen sollte, auf die einzig richtige Variante. Ich ging zu Schedrin. Rodion Konstantinowitsch hatte damals die Stelle des ersten Sekretärs im russischen Komponistenverband inne. Wladik erzählte mir, welch innige Beziehung sie hatten, zeigte den Briefwechsel mit ihm, verneigte sich tief vor seinen menschlichen Qualitäten und schätzte ihn natürlich sehr als Komponisten.

Ich sprach im Büro Schedrins in der Njeschdanowa-Straße im
Komponistenverband ohne telefonische Voranmeldung vor. Er kam hinter seinem Tisch hervor und reichte mir noch ziemlich jungen Mann mit sommersprossigem Gesicht, das mit vielen kleinen Falten übersät war, die Hand: ein Anflug von großzügigem Lächeln, das Schedrin oft seinen Gesprächspartnern schenkte.

Guten Tag! Ihr Gesicht ist mir sehr vertraut. Kenne ich Sie nicht vom Fernsehen?, begann Schedrin energisch. Das ist sehr leicht möglich. Ich bin der Bajanist Friedrich Lips.
Ich muss sagen, dass ich in diesen Jahren ziemlich oft im Zentralfernsehen spielte und gerade Ende 1975 wurde die 45-minütige Sendung "Es spielt Friedrich Lips", durch die E. Beljajewa führte, einige Male gezeigt. Das heißt, dass ich Sie im Fernsehen hörte. Setzen Sie sich, erzählen Sie mir über Ihre Probleme!

Ich schilderte kurz die Situation und bat um Hilfe. Nun, ich denke, da ist nichts Schreckliches passiert, sagte Schedrin und bat seine Sekretärin, ihn mit irgend jemandem telefonisch zu verbinden. Während sie daran arbeitete, und das dauerte ziemlich lange, begann Rodion Konstantinowitsch die Geschichte zu erzählen, wie er Wladislaw Solotarjow kennen gelernt hatte.

Das war vor einigen Jahren. Eines Abends kam ich nach Hause und am Eingang wartete auf mich ein junger Mann mit Bajan und bat mich, ihm zehn Minuten zu schenken und seine eigenen Werke zu hören. Ich verhielt mich wie immer zurückhaltend zu derartigen Besuchern. In der Regel war es wenig interessant, man vergeudet nur unnütz seine Zeit.

Und ich wollte ihn schon abweisen, unter Berufung auf meine Überlastung, aber irgendetwas in seinem Verhalten veranlasste mich, den unerwarteten Gast zu mir zu bitten. "Und was denken sie?", fuhr Schedrin fort. "Es erwies sich für mich so interessant mit ihm, dass meine Unterhaltung mit Slawa (so nannte Schedrin Wladislaw - Anmerkung Friedrich Lips) ganze zwei Stunden dauerte. Zuerst spielte er mir seine Musik, ich war begeistert, wir begannen ein

Gespräch, eine Diskussion, danach zeigte ich ihm meine letzten Werke. Unsere Unterhaltung zog sich in die Länge, so interessant war es mit ihm!

Da unterbrach ein Telefonat Schedrins Erzählung. Nach dem Ton des Gesprächs "mit irgend jemand da oben" und weil das Lächeln aus seinem Gesicht verschwand, verstand ich, dass alles nicht so einfach war. "Dieser" Mann konnte die Lage nicht beeinflussen. Schedrin bat die Sekretärin, ihn mit jemandem von höherem Rang zu verbinden und setzte die Erinnerung fort.

Ich wusste, dass Slawa beim ersten Mal nicht ins Konservatorium aufgenommen worden war. Damals empfahl ich ihn Tichon N. Chrennikow und sie nahmen ihn auf. Wir waren danach noch mehrmals in Verbindung. Verstehen Sie, das war ein außergewöhnlich talentierter Mensch, aber er hatte es in seinem Leben ziemlich eilig. Er wollte alles sofort haben: Erfolg, Auflage, Anerkennung. Aber man muss doch zuerst das Korn in die Erde werfen, dann muss man gießen, geduldig warten, während es keimt, dann jäten, die Pflanze pflegen, und erst nach einer gewissen Zeit wird sie Früchte tragen. Aber Slawa zog gleich an der Pflanze und beschleunigte so ihr Wachstum.

Das Läuten des Telefons unterbrach zum zweiten Mal den Monolog Schedrins. Wieder begann er den Sachverhalt zu erklären, jetzt schon höhergestellten Persönlichkeiten, und von neuem fühlte ich, dass es nicht so einfach gelingen würde, das Blatt zu wenden. In ideologisch heiklen Fragen wollte niemand die Verantwortung übernehmen. Alle hatten Angst. Endlich schaffte Schedrin den Durchbruch. Er war eben ein normaler Mensch, und für ihn war völlig klar, dass es um eine ideologische Absicherung ging:

Bitte, können Sie mich überhaupt verstehen, irgendein Gesindel hat einfach im ZK angerufen, um sich wichtig zu machen.

Schedrin legte den Hörer auf. Sein Gesicht war von einer gewissen Fassungslosigkeit gekennzeichnet. Ich fühlte, dass er von Natur her ein gewisser Siegertyp war und nicht so einfach aufgab:

Die Sache erweist sich als viel schwieriger, als ich dachte. Eine sofortige Entscheidung ist nicht möglich. Rufen Sie mich in einer Woche an. Ich gehe zu den nötigen Leuten und wir werden alles regeln.

Es war ein absoluter Glücksgriff, mich mit der Lösung meines

Problems gerade an Schedrin zu wenden. Nach einigen Tagen erhielt ich die Genehmigung für das Konzert zum Gedenken an Solotarjow. "Wissen Sie, Ihnen half Schedrin selbst!", riefen die Redakteure von Moskonzert freudig. "Ja, ich weiß...". Still und traurig blickte ich ihnen in die Augen - aber warum ließen sie es mit solcher Bereitschaft auf die Absage des Konzerts ankommen?

Einen Monat später fand das Konzert statt. Am Tag davor rief ich Schedrin zu Hause an. Eigentlich war ich überzeugt, dass er wegen seiner Überbelastung kaum kommen würde. Aber ich fühlte mich verpflichtet, ihn einzuladen und mich einfach bei ihm zu bedanken. Seine Gattin Maja Michailowna nahm den Hörer ab. Auch wenn ich nicht persönlich mit ihr bekannt war, war ihre majestätische Stimme doch unver-kennbar. Ich stellte mich kurz vor und verlangte nach Rodion Konstantinowitsch.

Friedrich, Sie Pfundskerl, dass Sie sofort zu mir kommen! begann Schedrin in der ihm eigenen energischen Art, Probleme direkt anzusprechen. Ich ahnte nicht, dass es so schwierig sein würde. Ich musste bis zum Äußersten gehen!*

Später erzählte Schedrin diese Geschichte in der Sendung mit dem bekannten Fernsehjournalisten Urmas Ott, und 12 Jahre danach beim Festival sowjetischer Musik "Machen wir gemeinsam Musik" in Boston (USA), dessen Organisatoren Sara Coldwell und Rodion Schedrin als Direktor und Chefdirigent der Bostoner Oper waren. Ich hatte die Ehre, als Interpret der Musik Sofia Gubaidulinas eingeladen zu sein. Rodion Konstantinowitsch erinnerte mich nochmals an die Ereignisse jener Jahre: Es war überhaupt nicht einfach. Ich musste bis zu Schauro selbst gehen. (Schauro war Leiter der Kulturabteilung im ZK der KpdSU. Höher als er konnten nur der Ideologe Suslow und ... Breschnjew sein. Wie man sagt: höher ist nur der Himmel).

Bei mir zu Hause finden sich zwei fast identische Plakate mit dem Unterschied im Datum von einem Monat. Am ersten groß: SOLOTARJOW. Weiters das Programm und unten Friedrich Lips. Auf dem zweiten Plakat groß: FRIEDRICH LIPS. Mit kleinerer Schrift: Solotarjow, und weiters das Programm. Die Redaktion von Moskonzert wollte sich in jedem Fall irgendwie absichern.

In bestimmten wichtigen Momenten des Lebens habe ich ein ziemlich gutes Gedächtnis, sodass ich alle Dialoge fast wörtlich zitieren kann.

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